Gute Gründe für Tempo 30 innerorts gibt es viele: Schutz vor schweren Unfällen, Lärm oder Feinstaub, ein besserer Verkehrsfluss, sicherere Radstreifen. Um nur einige zu nennen. An welchen Stellen solch eine Geschwindigkeitsreduzierung am sinnvollsten ist, wissen die Menschen in den Städten normalerweise am besten – lokale Politik und Verwaltung dürfen es aber nicht entscheiden. Stattdessen darf Tempo 30 nur dort eingeführt werden, wo es – je nach Straße – die Bezirks-, die Landes- und/oder die Bundesregierung nach starren und Jahrzehnte alten Kriterien erlauben.

Nun hat der Deutsche Städtetag angeregt, dass sich dieses Verfahren ändern sollte. Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm gründeten daher im Sommer 2021 die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“, an der mittlerweile über 200 Städte beteiligt sind. Bundesweit engagieren sich neben vielen anderen Berlin, Bremen, Stuttgart oder Trier in dem Verbund. In Nordrhein-Westfalen gehören beispielsweise auch Bochum, Köln, Düsseldorf und Wuppertal dazu. Und beinahe auch Hagen – denn die SPD hatte eine Beteiligung vorgeschlagen, die von der Verwaltung, der Bezirksvertretung Mitte und dem Umwelt- und Mobilitätsausschuss befürwortet wurde.

Nein, aber ja, aber nein, aber … der Hagener Sonderweg

Doch der Rat der Stadt Hagen sah es anders: Gegen die 22 Stimmen von SPD, Grünen, Die Linke und Oberbürgermeister lehnten CDU, AfD, FDP, HAK, Bürger für Hohenlimburg und Die Partei den Antrag mit 24 Stimmen ab. Die drei Abgeordneten von Hagen Aktiv, die das Zünglein an der Waage hätten sein können, enthielten sich. Vereinte Sorge der Ablehnenden: Durch die Mitgliedschaft in dem Städtebündnis könnte es passieren, dass im Hagener Stadtgebiet „durch die Hintertür“ flächendeckend Tempo 30 eingeführt wird. Stattdessen wurde von CDU, FDP, HAK, FDP und BfH/Partei vorgeschlagen, die Anliegen der Initiative durch die Hagener Bundestagsabgeordneten zu verfolgen – ohne sich aber im Bündnis direkt zu engagieren. Dieser Vorschlag wurde mit 40 zu 8 insbesondere gegen die Stimmen von AfD und Die Linke angenommen.

Die SPD im Interview

Warum der Beitritt gut gewesen wäre und was jetzt aus Tempo 30 am Buschey wird

Im Vorfeld der Ratssitzung traf ich mich zum Gespräch mit den SPD-Initiator:innen des Hagener Beitritts zur Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“ im Rathaus an der Volme: Ramona Greese (direkt gewähltes Wehringhauser Mitglied der Bezirksvertretung Mitte), Jörg Meier (SPD-Fraktionsvorsitzender in der BV Mitte sowie Mitglied in diversen Ausschüssen), Claus Rudel (Vorsitzender der SPD-Fraktion im Rat) und Andreas Reitmajer (Geschäftsführer der SPD-Fraktion) erklärten mir, warum sie sich einen Betritt gewünscht hätten und wie es nun mit Tempo 30 am Buschey weitergeht.

Euer Anliegen ist es, der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“ beizutreten. Warum, was versprecht ihr euch davon?

Claus Rudel: Die Idee zum Beitritt zu dem Städteverbund kommt eigentlich aus der SPD-Fraktion in der Bezirksvertretung Mitte. Sie soll bei der Bundesregierung durchsetzen, dass Kommunen die Möglichkeit haben, in Eigenhoheit, niederschwelliger und aus dem eigenen Wissen heraus entscheiden zu können, wo es Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt. In der Presse ist das teilweise falsch dargestellt worden. Es geht nicht darum, überall Tempo 30 einzuführen.

Andreas Reitmajer: Der Antrag zum Beitritt wurde zunächst im März in der Bezirksvertretung Mitte beschlossen, ging dann im Mai in den Rat, die zunächst eine Einschätzung des Ausschusses für Umwelt-, Klimaschutz und Mobilität haben wollten. Dort wurde es positiv votiert und ging als Empfehlung zurück in den Rat.

Jörg Meier: Aber auch wenn Hagen dem Bündnis beitreten sollte, ist natürlich das Gesetz noch nicht geändert. Die Straßenverkehrsordnung regelt das Tempo und die ist irgendwann gemacht worden, vor 50 Jahre würde ich mal tippen, um den damaligen Straßenverkehr zu ordnen. Damals hatte man im wesentlichen Autos im Blick, alle anderen Verkehrsteilnehmenden jedoch nicht. Das Gesetz hat man nie geändert, weil die Autolobby in Deutschland einfach sehr stark ist. Und die Kommunen haben nicht die Möglichkeit, da wo sie es für richtig erachten, die Geschwindigkeit anzupassen.

[Anm. d. Red.: Die Straßenverkehrsordnung ist von 1937, das Tempolimit von 50 km/h innerorts wurde 1957, also vor 65 Jahren, beschlossen – zuvor lag es bei 60 km/h.]

Ramona Greese: Wenn man momentan von den vorgegebenen 50 km/h abweichen möchte, ist das sehr aufwendig. 

Jörg Meier: Genau, das braucht eine sehr genaue Begründung, wie etwa an der oberen Eugen-Richter-Straße durch die Kita und die Schulen. Ein weiterer Grund wären sehr hohe Emissionen, wie etwa in der Finanzamtsschlucht. Oder auch wenn es zu laut ist, was wir als Ansatz an der Buscheystraße verfolgen. Kein Grund für ein Tempolimit aber sind die gleichberechtigten Verkehre auf der Straße, dabei wollen wir doch alle eine Verkehrswende. Auch Radfahrende oder Leute auf E-Scootern haben das Recht, sich im Straßenverkehr aufzuhalten. Wenn man die Geschwindigkeit senkt, hebt man für die das Sicherheitsniveau gleichzeitig an. Beispielsweise an der Altenhagener Straße, da ist es richtig gefährlich. Da ist jetzt an den Supermärkten Tempo 30 und direkt dahinter an der Bushaltestelle wieder nicht und dann aber ein paar Meter weiter an der Schule schon wieder. Das macht doch überhaupt keinen Sinn, immer wieder zu beschleunigen und wieder abzubremsen. Das kostet Nerven und Sprit und produziert unnötig CO2. Wir würden auch gerne auf der Ortsdurchfahrt in Dahl Tempo 30 einrichten, dürfen wir aber nicht. Da das eine Bundesstraße ist, darf das nur der Bund entscheiden und vorher muss der Oberbürgermeister noch bei der Bezirksregierung Bitte Bitte machen, damit die das unterstützen.

Claus Rudel: Es ist ja auch eine Frage, wie man miteinander umgeht. Jörg hat das Thema Verkehrswende angesprochen. Und da gehören Fahrradfahrende heute in einer ganz anderen Konsequenz dazu, Leute die zu Fuß gehen, die an den Straßen wohnen. Wir wollen ja, dass weiter in den Städten gewohnt wird. Und der ÖPNV gehört dazu. Ich glaube, mit Tempo 30 oder anderen Geschwindigkeiten, wenn man das anpassen könnte, kann man mit etwas Nachdenken auch einen fließenderen Verkehr hinbekommen. An der Weststraße und an anderen Stellen ist auch innerorts problemlos 60 möglich, da ist es ungefährlich, vielleicht sogar auf der Bahnhofshinterfahrung. Aber man verhindert dieses ständige Gas geben und Bremsen. Und diese Argumente, man müsse bei Tempo 30 so viel schalten, die gelten doch auch nicht mehr. Elektroautos, moderne Busse und LKWs, die haben alle schon Automatikgetriebe.

Man kann das ja täglich erleben, die Leute knallen auf dem kurzen Stück, wo es geht über die Eugen-Richter-Straße, hupen, überholen waghalsig die haltenden Busse, fahren viel zu eng an Fahrradfahrenden vorbei – und an der nächsten Ampel stehen sie dann eh wieder vor einem.

Claus Rudel: Genau, es gibt da eigentlich kein Argument für. Und wir können ja auch die Straßen nicht breiter machen, um die anderen Verkehrsteilnehmenden unterzubringen. Also kann es einen Konsens nur über die Geschwindigkeit geben und das ist, dass man die auf ein vernünftiges Maß eingrenzt.

Für wie erfolgversprechend haltet ihr denn die Initiative für ein selbstbestimmtes Tempo?

Jörg Meier: Ich glaube, das ist sehr erfolgversprechend. Ich weiß, dass auch bereits auf Bundesebene über das Thema nachgedacht wird. Es ist also nicht so, als wäre das da noch nicht angekommen oder würde blockiert. In der Koalition aus SPD, Grünen und FDP können wir zwar davon ausgehen, dass die FDP reflexartig auf der Bremse stehen wird, was das Thema Geschwindigkeitsbegrenzung angeht. Aber Freiheit ist auch immer die Freiheit aller, die die Straßen nutzen. Wir haben in Hagen immer wieder eine Diskussion, wenn es darum geht, Fahrradwege anzulegen. Der größte Konflikt ist, dass die Verantwortlichen da Angst um die Fahrradfahrenden haben, etwa in der Hochstraße. Man könne die da nicht fahren lassen, die würden ja umgefahren. Und das führt in Hagen dann zu der Situation, dass Fahrräder außen vor gelassen werden oder wie in Hohenlimburg um tausend Ecken geschickt. Wir müssen irgendwann dahin kommen, dass die Autofahrenden erkennen: Ich bin nicht alleine auf der Straße. Deswegen sind auch diese beknackten Fahrradstreifen unerlässlich aus meiner Sicht, auch wenn es bestimmt bessere Lösungen gibt. Aber das ist ein Prozess in den Köpfen der Leute. Wir stehen ja auch erst ganz am Anfang, das ist eine Initiative, da sollen erst noch Modellvorhaben kommen. Wie entwickeln sich Emissionen, wie entwickelt sich der Lärm? Das ist wirklich ganz früh am Anfang, bis es da zu einer Gesetzesänderung kommt … und in Hagen im Rat fängt man jetzt schon an, sich dagegen zu sperren.

Wenn der Beitritt nun im Rat abgelehnt würde, wäre das aber nicht das einzige Pferd zum Thema Tempo 30, auf das ihr setzt? Ist der Emissionsschutz am Buschey weiterhin ein Thema?

Ramona Greese: Ja genau, da sind wir weiter dran, aber das funktioniert aktuell noch nicht durch die Sperrung der Marktbrücke.

Die aber doch in wenigen Tagen aufgehoben wird …

Jörg Meier: Dann müssen sich die Verkehre aber erst wieder einspielen. Vielleicht haben die Leute ja erkannt, da oben über den Buschey zu fahren ist eh Mist und über die Bahnhofshinterfahrung geht es viel schneller. Das wäre für den Buschey dann natürlich, sozusagen, die Gefahr, dass es leiser bleibt, weil die ganzen Schwerlastfahrzeuge da nicht mehr herfahren. 

Aber es ist doch nicht nur der Schwerlastverkehr, der Lärm verursacht?

Jörg Meier: Nein, aber es gab eine Gesetzesänderung und es muss differenziert geguckt werden, was für Fahrzeuge da herfahren und dann wird die Lärmbelastung berechnet. Das muss zunächst neu gezählt werden, weil die bisherigen Zahlen nur LKW-Verkehr in Gänze betrachten und Schwerlaster nicht einzeln aufführen.

Damit ich das richtig verstehe: Man misst nicht einfach den Lärm und sagt, das ist zu laut, sondern man zählt die verschiedenen Fahrzeuge und sagt, das müsste so und so zu laut sein?

Jörg Meier: Den Lärm misst niemand. Es werden zu verschiedenen Zeiten die Fahrzeuge gezählt und dann rechnen Sachverständige anhand dessen die Lärmbelastung aus.

Dass auf dem Buschey in der näheren Zukunft Tempo 30 kommen könnte, ist also nicht wahrscheinlich?

Ramone Greese: Es braucht viel Zeit. Die Vorgänge, bis man politisch mal einen Schritt in die richtige Richtung machen kann, ziehen sich. Das fängt ja schon mit der Marktbrücke an: Das Gutachten kann erst erstellt werden, wenn die nicht nur fertig ist, sondern auch die Verkehre sich wieder normalisiert haben. Und dann ist die Brücke viele Monate später als geplant fertig geworden. Aber wir wollen da weitermachen und nicht, wie es in der Presse hieß, wir wären mit dem Anliegen gescheitert. Gut Ding will Weile haben.

Jörg Meier: Auf dem Buschey ist es ja auch wirklich gefährlich, mit dem Fahrrad zu fahren. Beispielsweise an dieser einen Stelle, wo der Baum in die Straße hineinragt. Manche sehe ich da todesmutig mit dem Rad auf der Straße, da ziehe ich den Hut vor, aber das ist aktuell nichts für alle.

Claus Rudel: Den Buschey haben wir nicht aus den Augen verloren, das ist bei uns ein Fokus. Die Situation ist ja auch bekloppt. Erst hat man 30, dann gehts hoch und runter mit 50 und dann ist wieder 30. Wo ist da der Nutzen, dass die Leute immer wieder kurz beschleunigen zwischendurch? Ein Erfolg der Städte-Initiative würde uns ermöglichen, grundsätzlich Tempo 30 einzurichten, wo wir als Stadt es sinnvoll finden. Und wenn Hagen dem Bündnis nicht beitritt, wenn das im Rat scheitert, dann gibt es das Bündnis ja trotzdem. Das ist dann halt ärgerlich, weil wir nicht bei den Ersten dabei sind, sondern bei den Letzten. Das ist dann halt so gewollt, aber aus unserer Sicht der völlig falsche Ansatz.

Danke für das Gespräch!